ZEN

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das torlose Tor in Oberlethe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Zen ist anders. Zen richtet sein Hauptaugenmerk auf unmittelbare Einsicht. Westlichem Denken, eurem Dualismus, bleibt dies verschlossen. Es lässt sich nicht durch Worte, Begriffe, Gedanken vermitteln. Das sind Krücken. Darauf stützt du dich beim Denken. Und das Denken beruht zum großen Teil auf Vorurteilen, auf Vorstellungen, Annahmen, Hypothesen. Das meiste davon hast du von anderen übernommen, nach mehr oder weniger kritischer Prüfung. Daraus sind Muster und Strukturen entstanden. Sie haben sich in deinem Gehirn eingeprägt und hindern dich daran, in dein eigenes wahres Wesen zu schauen. Deshalb sagte ich vorhin: Vergiss alles, was du gelesen, was du gelernt und was du gedacht hast!
  „Dir ist schwer zu folgen, Rôshi.
* Du selber benutzt Worte, Begriffe, Gedanken, um mir etwas klar zu machen. Und auch der Buddha hat geredet. Wie soll ich das verstehen?
  „Der Buddha, Gotama Buddha hat, ebenso wie Laotse, gezeigt, dass allein die Intuition, der direkte Weg, zur tiefsten Erkenntnis führt. (…)  Gotama Buddha hat davon abgeraten, an seinem Wort zu haften, an Worten kleben zu bleiben oder gar Wortklauberei zu betreiben. Offenbar hat er bereits gewusst, dass die Welt anders ist, als wir denken, und geahnt, dass sie möglicherweise sogar anders ist, als wir sie wahrnehmen und erfahren.
  >Alle Lehren des Buddha sind ein Finger, der zum Mond zeigt<, heißt es im Sûtra des vollkommenen Erwachens.
 
Sprache, verbale Kommunikation, dient einzig und allein der Orientierung auf dem Weg zu einem sprachlosen Raum. In diesen begibst du dich beim Zazen, beim Sitzen in Selbstversenkung – hellwach, konzentriert und sehr achtsam.
  Es kommt nicht darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern uns selber so wahrzunehmen, wie wir sind – ohne Illusionen. Die Welt und wir sind ein und dasselbe: alles und nichts. Alles – uns einbezogen – ist dem Wandel unterworfen, und nichts hat Bestand.
  Das Heil wird einem nicht gebracht; es ist in einem selbst. Man muss es nur erkennen. Wenn wir dementsprechend handeln, handeln wir richtig. Der Weg des Zen führt durch unser alltägliches Leben.

(aus meinem Roman Der Ritt auf dem Ochsen…, S. 238 f.)

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*  rôshi, jap., Zen-Meister, -lehrer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

O B E R L E T H E
Bericht über ein Retreat

 

 

Achtsamkeit - Herz der buddhistischen Praxis war das Thema eines Seminars in Oberlethe bei Oldenburg i. O., an dem Ursel und ich im Juni 2001 teilgenommen haben. Es waren fünf außergewöhnliche Tage mit Thich Nhat Hanh, zwanzig buddhistischen Nonnen und Mönchen aus Südfrankreich und fünfhundert Teilnehmer/inne/n aus ganz Deutschland:

Zazen (Sitzmeditation), Kinhin (Gehmeditation), Dharma (Lehr-)Vorträge, Dharma-Diskussionen und eine buddh. Hochzeit. Der 75 jährige Thây (vietn., Zen-Lehrer: T.N.H) saß während seines (freien) Vortrags morgens über zwei Stunden im Lotusssitz, nachmittags nochmals zwei Stunden und an einem Tag ein drittes Mal an einem Abend. Gedolmetscht wurde aus dem Englischen simultan von einem deutschen Mönch; der hat auch einige der zahlreichen Bücher des Thây ins Deutsche übersetzt. T.N.H. war übrigens von Martin Luther King zum Nobelpreis vorgeschlagen worden.

Morgens um sieben Uhr begaben sich fünfhundert Menschen schweigend in eine große, helle Reithalle. Barfuß oder auf warmen Socken betraten wir einen Bretterboden, der lose auf planierten Sand gelegt worden war. Wir setzten uns auf unsere Isoliermatten, Sitzkissen u. dgl., zogen uns eine warme Jacke oder Decke über die Schultern und übten eineinhalb Stunden lang Zazen. Dabei war auf den eigenen Atem zu achten, ihn zu spüren, dem Atem, dem Lebensrhythmus, zu folgen und sich nicht ablenken zu lassen von den kalten Windböen, die das Knistern unterm Hallendach verursachten, vom lautlosen Flattern einer Schwalbe und vom Wiehern eines Pferdes draußen auf der Koppel. Eingeschlafene wurden von Zeit zu Zeit vom langen Ton einer Klangschale geweckt. Zwischen uns saßen Erdmännchen: die kleinen vietnamesischen Nonnen und Mönche in dunkelbraunen Roben und mit Strickmützen auf den rasierten Köpfen.

Nach einem meditativen Frühstück der Dharma-Vortrag des Thây und eine Gehmeditation durch den Park. Schweigend wurde auch Mittag gegessen, abends in die Pension gefahren oder ins Zelt gegangen. Nachmittags Tiefenentspannung, Vortrag über die 5 Achtsamkeitsübungen, die T.N.H formuliert hat, die Hochzeit u. a. Abends in Kleingruppen mit Nonnen und Mönchen Dharma-Gespräche über Fragen zu Lehre und Praxis und am letzten Abend Fragen an Thây, die er auf sehr originelle und humorvolle Weise beantwortet hat. Dabei wurden Schwierigkeiten, die einige mit den 5 Achtsamkeitsübungen hatten, erörtert, Fragen der Sexualität, des Alkoholgenusses ("das tägliche Schöppchen Wein"), des Berufes (z.B. Handel mit ökolog. unverträglicher Ware) u. a. m. Vor dem Schlafengehen eine weitere Sitzmeditation. Alles vollzog sich in großer Ruhe und Stille, und man begegnete einander freundschaftlich lächelnd.

Am authentischen Buddhismus ist also nichts Utopisches und nichts, was nicht jeder Mensch praktizieren könnte. So täte schon eine Stunde gemeinsamer Sitz und Gehmeditation vor jeder Debatte den Parlamentariern und allen anderen, die den politischen Streit suchen, gut, vor allem aber der Sache, um die es dabei geht. Dann brauchte man sich nicht um mangelnde "Streitkultur" zu beklagen. Man würde lernen, zuzuhören, Argumente und Beweggründe anderer zu verstehen und gelassener, achtsamer miteinander umzugehen.

Buddhismus ist eine ganzheitliche Lebensweise in der Einheit von Fühlen, Denken und Tun.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Achtsamkeit*

 Ohne das Konzert der Frösche

zu stören,

umwandelten Hunderte meditierend

den Teich.

Dann setzten wir uns alle ins Gras

und hörten zu.

 

Eine der Gehenden,

eine kleine, dicke Frau,

hatte sich über dem Boden schweben gesehen

und war darüber erschrocken.

Sie empfand die Leichtigkeit eines Vogels.

Wir brachten sie zu sich zurück.

 

„Das ist ganz normal, sagte einer von uns.

„Wenn du es nicht weiter beachtest,

verschwindet es wieder.

Lass dich nicht beirren!

    Es ist nicht beachtenswert.**

 

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*   Bei einer Gehmeditation während eines Retreats mit Thich Nhât Hanh in Oberlethe,  10./15. Juni 2001
** Es war makyô, jap., eine Halluzination, Durchgangsphase bei tiefer Versenkung

 

 

Beim Zazen und anderen Meditations- und Konzentrationsübungen besteht weniger die Gefahr des Abgleitens ins Psychotische, als dass dabei latente, bereits vorhandene, verdrängte Psychosen in Erscheinung treten, und zwar verstärkt. Viele Betroffene jumpen von einem Retreat zum anderen, von einer Gruppe zur anderen, nachdem sie von einem Psychotherapeuten zum anderen gelaufen sind, und erwarten Wunder.

Erfahrene Zenmeister und –meisterinnen wissen, wie man damit umgehen muss und können tatsächlich helfen. Dazu bedarf es allerdings einer intensiven und längeren Betreuung. Bei einem Zehntage- oder Dreiwochen-Retreat ist dies nicht möglich.

Ich habe viele Berichte von Autoren/innen gelesen, die Zen praktizieren, in buddhistischen Klöstern gelebt haben oder selber Zen lehren. In der Regel wird darauf hingewiesen, dass Zen, dass Buddhismus keine Psychotherapie ist und dass, wer an Zen-Übungen, buddhistischen Zeremonien u. dgl. teilnimmt, es in eigener Verantwortung tut. Bei manchen Retreats und in den meisten Zentren und Klöstern muss sogar eine entsprechende Erklärung unterschrieben werden.

Ein Psychologe fragte: „Was ist der Unterschied zwischen dem Geisterglauben und dem Glauben an den einen Geist? Ein Zen-Schüler fasste dies als Kôan auf und antwortete: „Die Null ist eine Zahl.

Der Buddha-Weg ist ein lebenslanger Weg, der wegführt von den Fragen nach der eigenen Befindlichkeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

K O A N S*

Viele Gedanken sind des Philosophen Tod.

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Erleuchtung?

Ein langer Weg.

Du musst dir die Zehennägel schneiden!

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Was du suchst, das hast du schon.

Du musst es nur finden.

 
 

GATHA**

Nicht in der Vergangenheit,

nicht in der Zukunft ‑

im gegenwärtigen Augenblick leben wir wirklich:

jetzt, in diesem Moment.

 

Wenn wir uns diese alte, buddhistische Erkenntnis ganz zueigen machen, lösen sich alle Probleme, die auf uns lasten, wie von selbst. 

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* kôan, jap.: Paradoxon, das uns an die Grenzen unseres Denkens stoßen lässt. Durch einen „geistigen Quantensprung über diese Grenzen hinweg können Zen-Übende zu tieferer Einsicht gelangen -  mit einem Koan, das sehr intensiv erfahren wird und im Unbewussten fortwirkt. Eine Praxis, die seit dem 10. Jahrhundert angewendet wird.
** gatha, jap.: Kurzes Lehrgedicht

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sekkyo fragte einen seiner Schüler: „Kannst du den Raum festhalten?
„Ja, Meister, antwortete er.
„Zeige mir, wie du das machst.
Der Mönch streckte seinen Arm aus und griff in den leeren Raum.
Sekkyo sagte: „Ist das der Weg? Aber du hast doch trotzdem nichts in der Hand.
Der Mönch fragte: „Wie ist denn dein Weg?
Der Meister ergriff geradewegs die Nase des Mönchs und zog sie so heftig, dass letzterer schrie: „ Oh, oh, wie heftig ziehst du an meiner Nase! Du tust mir schrecklich weh!
„Das ist der Weg, ein Stück leeren Raums gut in der Hand zu halten, sagte der Meister.

(Aus einer Sammlung alter Koans) 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Kôan aus dem Bi Yän Lu, einer chinesischen Textsammlung des 12. Jhs., der Niederschrift von der Smaragdenen Felswand :

Ma-yü, den Klingstab in der Hand, kam zu Dschang-djing. Er umkreiste den auf dem Boden Sitzenden drei Mal, schüttelte den Klingstab, dass die Ringe klirrten, stieß ihn auf den Boden, reckte sich in seiner ganzen Länge und stand vor ihm da.
Dschang-djing sagte: „Ja, ja, so ist`s recht.
Ma-yü kam dann auch zu Nan-tjüan. Er umkreiste auch ihn drei Mal, schüttelte den Klingstab, dass die Ringe klirrten, stieß ihn auf den Boden, reckte sich in seiner ganzen Länge und stand vor ihm da.
Nan-tjüan sagte: „Nein, so ist es nichts.
Ma-yü sagte daraufhin: „Dschang-djing hat zu mir gesagt, so sei es recht. Warum sagt der Ehrwürdige ´nein` dazu?
Nan-tjüan erwiderte: „Dschang-djing, der hat Recht; nur du hast Unrecht.

 

 

 

 

Noch eine kleine Geschichte, die ich irgendwann irgendwo gehört oder gelesen habe:

Zwei Mönche stritten sich über einen Lehrtext. Jeder bestand darauf, dass er Recht habe, und bezeichnete die Meinung des anderen als falsch. Einer der beiden sagte: „Ich gehe zum Meister. Er soll darüber entscheiden. Und so ging er zum Meister, dem gerade ein dritter Mönch den Schädel rasierte.

„Ehrwürdiger Meister, sagte er. „Ich hatte eben einen Streit mit meinem Bruder. Er zitierte die umstrittene Textstelle und trug ihm seine eigene Meinung vor. Mein Bruder dagegen behauptet, ich sei im Irrtum. Er trug dem Meister auch die Meinung seines Bruders vor und fragte: „Meister, wer hat nun Recht, mein Bruder oder ich?

Der Meister sagte: „Du hast Recht.

Erfreut über diese Antwort, ging der Mönch zu seinem Bruder und erzählte es ihm. Dieser jedoch lief zum Meister und beschwerte sich: „Meister, das kann doch wohl nicht sein! Ich berufe mich auf den Kommentar eines großen Lehrers und soll im Irrtum sein und er im Recht?!

Der Meister antwortete: „Ja, du hast Recht.

Der dritte Mönch, der dem Meister gerade den Schädel rasierte, ein wahrheitsliebender Mensch, war bestürzt.

„Meister!, rief er, „ehrwürdiger Meister, wie kannst du sagen, beide haben Recht?! Entweder hat der eine Recht oder der andere.

Der Meister sah ihn lächelnd an und sagte: „Ja, auch du hast Recht. - - -

 

 

 

 

 

 

© Dietrich Stahlbaum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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